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400.000€ für das „Sicherheitsgefühl“

Die Stadtverordneten stimmen morgen über die umstrittenen Pläne zur Videoüberwachung auf dem Luisenplatz ab. Der Platz soll mit 15 Kameras rund um die Uhr überwacht werden. Aufgezeichnet werden dabei nicht nur Pendler*innen des öffentlichen Nahverkehrs, sondern auch die Gäste der Cafés auf dem Platz, wie in der Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses in der vergangenen Woche bekannt wurde. Lediglich in der Liveansicht sollen diese Bereiche verpixelt werden. Dies stellt einen tiefen Eingriff in die verfassungsrechtlich besonders geschützten höchstpersönlichen Lebensbereiche dar und dürfte damit in der aktuellen Form rechtswidrig sein.

Die aktuell diskutierte Vorlage ist lückenhaft

Die Vorlage des Magistrats, über die die Stadtverordneten morgen entscheiden sollen, enthält unterdessen keine technische Details zu diesem wichtigen Aspekt. Weder liegen den Stadtverordneten die gemeinsam mit der Polizei erarbeiteten Leistungskriterien vor, noch wird ein Sicherheitskonzept gegen die missbräuchliche Nutzung des Systems vorgelegt (siehe auch „ Kritischer Stadtrundgang zur Videoüberwachung in Darmstadt “). In der Vorlage ist nicht einmal die Anmeldung mit einer individuellen Nutzerkennung vorgeschrieben. Viele Details zur geplanten Videoüberwachung wurden erst durch kritische Nachfragen in Ausschusssitzungen bekannt.

Sicherheitsgefühl statt tatsächlicher Sicherheit

Die Politik spricht von einem „erhöhten Sicherheitsgefühl“ als zentrales Argument für die Videoüberwachung. Ein Gefühl darf allerdings nicht herangezogen werden, um die erheblichen Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen. Wie unverhältnismäßig diese Überwachungsmaßnahme ist, zeigt auch ein Blick in die Polizeistatistik 2018 : Demnach gilt Südhessen als sicherste Region in Hessen. Es werden hier nicht nur deutlich weniger Straftaten verzeichnet, sondern auch gleichzeitig mehr Fälle durch die Polizei aufgeklärt. In der Pressemitteilung ist auch die Rede von erfolgreichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Straßenkriminalität - ganz ohne Videoüberwachung. Selbst Polizeipräsident Bernhard Lammel betont, die gefühlte Sicherheit der Bürger*innen stehe in keinem Verhältnis zu den objektiven Zahlen. Die Stadt selbst konstruiert dahingegen eine Terrorgefahr. In der Magistratsvorlage aus dem vergangenen Jahr bezeichnete die Stadt selbst den Luisenplatz als „bevorzugtes Anschlagsziel von Terroristen“ und trägt damit zur Panikmache bei.

Verfassungsrechtliche Bedenken und unklare Wirksamkeit

Die Rechtmäßigkeit der Überwachungsmaßnahme wird mit der am 25. Juni 2018 in Kraft getretenen Änderung des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) begründet. Gegen diese Gesetzesreform laufen aktuell zwei Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht . In der Magistratsvorlage, die am 18. Juni 2019 in der Stadtverordnetenversammlung mit den Stimmen von Grünen, CDU, FDP und AfD verabschiedet wurde , konstruierte die Stadt einen besonderen Kriminalitätsschwerpunkt mit 37 Körperverletzungsdelikten, 36 Diebstählen, 27 Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, einem Raub, sechs Bedrohungen und sieben Fällen von Sachbeschädigung im gesamten Jahr 2017. Die Stadt erläutert, potenzielle Straftäter würden „durch die Existenz einer Videoüberwachungsanlage naturgemäß davon abgehalten, diese Straftaten tatsächlich zu begehen“. „Wie genau sich betrunkene Randalierer durch die Existenz von Videokameras beruhigen lassen, erschließt sich mir nicht“, gibt Marco Holz vom CCC Darmstadt zu bedenken. Die Vorlage verschweigt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§4 HSOG) dabei völlig und lässt außer Acht, dass geeignetere Maßnahmen wie eine Polizeipräsenz vor Ort nicht nur bloß abschrecken, sondern sogar zu einer tatsächlichen Erhöhung der Sicherheit am Luisenplatz beitragen.

Eingriff in die Versammlungsfreiheit

Der Europäische Datenschutzausschuss (EDSA) warnt in den in der vergangen Woche verabschiedeten Leitlinien zur Verarbeitung personenbezogener Daten durch Videoüberwachungstechnik vor den Gefahren für eine freie Gesellschaft und dem hohen Druck auf Anpassung an die gesellschaftliche Norm, der von Videoüberwachung ausgeht. Videoüberwachung sei kein notwendiges Mittel, wenn andere Mittel zur Erreichung des damit beabsichtigten Ziels zur Verfügung stünden. Der vom EDSA beschriebene Anpassungsdruck kann allerdings, wie in der morgen zur Abstimmung stehenden Vorlage bereits erkannt, zur Nicht-Teilnahme an politischen Versammlungen führen. Vor dem Hintergrund der regelmäßig auf dem Luisenplatz stattfindenden Versammlungen und Demonstrationen liegt hier also ein besonders schwerer Eingriff in die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit vor. Wie für potenzielle Demonstrationsteilnehmer*innen klar und deutlich erkennbar wird, dass die Videokameras während Demonstrationen abgeschaltet sind, lässt die Vorlage offen. Im Haupt- und Finanzausschuss wurde letzte Woche bekannt, dass geplant sei, auf Anweisung des Landesamtes für Verfassungsschutz auch während politischer Versammlungen Bildmaterial zu übertragen und aufzuzeichnen.

Politisch inkonsequent

Nicht zuletzt würden insbesondere Grüne und FDP mit einer Zustimmung zur Vorlage in der Stadtverordnetenversammlung mit ihren politischen Versprechen und Haltungen brechen. So haben die Darmstädter Grünen gemeinsam mit der CDU im Koalitionsvertrag festgehalten , dass über eine Videoüberwachung auf dem Luisenplatz erst entschieden werden soll, nachdem Bürgerbefragungen und Analysen in Kooperation mit Landespolizei und dem Kommunalen Präventionsrat Darmstadt (KPRD) durchgeführt wurden. Die fehlende Bezugnahme in der nun diskutierten Vorlage in der Stadtverordnetenversammlung legen den Schluss nahe, dass nichts davon passiert ist. Stattdessen stellen sich die Grünen gegen ihr eigenes Regierungsprogramm auf Landesebene , worin sie eine massenhafte, anlasslose Videoüberwachung strikt ablehnen. Genauso werden Technologien wie Gesichtserkennung im aktuellen Entwurf nicht ausgeschlossen, was ebenfalls grünen Grundsätzen widerspricht. Die Einführung der Videoüberwachung auf dem Luisenplatz wäre nicht möglich ohne die Stimmen der FDP. Diese distanzieren sich damit ebenfalls von ihrem Grundsatz auf Landesebene , Videoüberwachung nur „in Einzelfällen und nur bei besonderen Gefahrenlagen“ zuzulassen, um individuelle Freiheitsrechte der Bürger*innen zu schützen.

Vorreiter der Überwachung

Damit wird Darmstadt wohl eher zum Vorreiter der Überwachung und Beschneidung der Freiheitsrechte statt zum Vorreiter in Sachen Datenschutz, wie es der Ethik- und Technologiebeirat der Digitalstadt als Ziel formuliert hat. In seinen „ ethischen Leitplanken für die Entwicklung Darmstadts zur Digitalstadt “ fordert der Beirat, personenbezogene Daten so wenig wie möglich zu erfassen und weiterzugeben. Stattdessen entsteht durch die unverhältnismäßige Videoüberwachung sogar eine Gefahr für Grundrechte und Privatsphäre der Einzelnen, was nach den Richtlinien des Ethikbeirats explizit verhindert werden sollte.

Insbesondere im Kontext der aktuellen, bundesweiten Debatten um Videoüberwachung und Gesichtserkennung ist das Vorhaben, den Luisenplatz als zentralen öffentlichen Raum ohne erkennbar besonderen Gefahrenschwerpunkt vollständig und dauerhaft durch Kameras zu überwachen, in höchstem Maße unverantwortlich. Das Vorhaben greift nicht nur in fundamentale Grundrechte ein, sondern unterminiert die Glaubwürdigkeit der Stadt Darmstadt hinsichtlich ethischer Leitlinien und damit das Vertrauen in die Stadt nachhaltig.